Jugendweihe: Freireligiöser Ursprung und sozialistische Praxis

Jugendweihe: Freireligiöser Ursprung und sozialistische Praxis
Jugendweihe: Freireligiöser Ursprung und sozialistische Praxis
 
Während die Feier selbst in den 1850er-Jahren in freireligiösen Gemeinden in Deutschland entstand und dann in den Verbänden der bürgerlichen und proletarischen Freidenker übernommen und entsprechend geändert wurde, ist bei der Geschichte des Begriffes selbst ein noch früherer Zeitpunkt für seine Entstehung sicher. In der umfassendsten Studie legte Halberg 1977 anhand von Belegen aus Aufklärung und deutscher Klassik dar, dass »die Bedeutung der Weihe als Zustand, als ein Vorhandensein heiliger Kraft« sich schon an der Wende zum 19. Jahrhundert entwickelte. Bestimmend dafür seien gewesen ein neues Interesse an fremden Kulturen sowie Humanitätsdenken und Sentimentalität der Aufklärungszeit.
 
 Die Geschichte der Jugendweihe
 
Anfangs Schulentlassungsfeier in freireligiösen Gemeinden
 
Die Jugendweihe entstand also in den 1850er-Jahren in freireligiösen Gemeinden in Deutschland als Feier für Kinder zur Schulentlassung. Die Jugendweihe wurde durch einen entsprechenden Unterricht vorbereitet. Da sie durch ihren Zeitpunkt und die Form sehr der Konfirmation und deren Vorbereitungen ähnelte, wurde die Jugendweihe von den evangelischen Kirchen abgelehnt. Kinder, die an der Jugendweihe teilgenommen hatten, wurden von den evangelischen Kirchen von der Konfirmation ausgeschlossen. Eine Jugendweihe veranstalteten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch Freidenker, Sozialdemokraten und Kommunisten; während der Zeit der Sozialistengesetze wurden die ersten proletarischen Jugendweihen abgehalten, dies vor allem in großen Städten wie Hamburg und Berlin. Zur Zeit der Weimarer Republik führte die KPD Jugendweihen durch, an denen bis zu 2 000 Jugendliche teilnahmen. 1928 bildete sich die »Arbeitsgemeinschaft freigeistiger Verbände« mit Sitz in Berlin, deren Mitglieder die KPD, der proletarische Freidenkerverband, der Monistenbund und die freireligiöse Gemeinde Berlins waren. Die freireligiösen und proletarisch-sozialistischen Jugendweihen wurden unter den Nationalsozialisten verboten, die eine eigene »Jugendweihe der NSDAP« durchführten.
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten
 
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrepublik Deutschland der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands neu aufgebaut. Er führte Jugendweihen durch, an denen zum Beispiel in Hamburg in den 50er-Jahren bis zu 3 000 Jugendliche teilnahmen. Eindeutig gab das Geschenkbuch »Weltfrömmigkeit« ab 1958 die Selbsteinschätzung der Jugendweihen der westdeutschen Gruppen wieder: »Wir Freireligiöse möchten weder eine Bestätigung noch eine Bekräftigung irgendeines Glaubens fordern; es geht uns vielmehr darum, den alten religiösen Gedanken der Weihe wieder lebendig werden zu lassen (...) Die Jugendweihe ist kein Akt, den ein Prediger vollzieht, sondern im Gegenteil: der Prediger bekennt: Ich kann euch kein Heil und keine Kraft geben. Heil und Kraft liegen in euch selbst, und so bekommt die Jugendweihe ihren rechten Sinn, wenn ihr euch selbst weiht (...)« Besondere Bedeutung erlangte die Jugendweihe in der DDR. Dort wurde sie anfangs allerdings noch abgelehnt, da man befürchtete, die Jugendweihe könne verhindern, dass »sich die patriotischen Kräfte zum gemeinsamen Kampf für Einheit und Frieden zusammenfinden«.
 
 Die Besondere Bedeutung der Jugendweihe in der DDR
 
Der Zentrale Ausschuss für Jugendweihe (ZAfJ)
 
Als dann die atheistische Propaganda jedoch zunahm und der 2. SED-Parteitag 1952 den Beschluss über den Aufbau des Sozialismus fasste und es zu einer stärkeren Orientierung auf sozialistische Bildung und Erziehung kam (so der 4. SED-Parteitag 1954), wurde im November desselben Jahres der »Zentrale Ausschuss für Jugendweihe« (ZAfJ) gebildet. Im Frühjahr 1955 wurde ein Aufruf des ZAfJ veröffentlicht, der unter anderem auch von Anna Seghers und Stephan Hermlin unterzeichnet worden war. Darin wurde herausgestellt, dass die Jugendweihe eine freiwillige Veranstaltung und zudem weltanschaulich neutral sei. Die Jugendweihe wurde mit zehn Jugendstunden vorbereitet. In ihnen sahen die Kirchen allerdings Tendenzen zum Atheismus und lehnten die Jugendweihe deshalb ab.
 
Fester Bestandteil des sozialistischen Bildungs- und Erziehungssystems
 
Das konnte nicht verhindern, dass die Jugendweihe ein fester Bestandteil des sozialistischen Bildungs- und Erziehungssystems wurde. So legte das Jugendgesetz von 1964 fest, dass die Jugendweihe »der Vorbereitung der jungen Menschen auf das Leben und die Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft« dient. Die Etablierung der Jugendweihe im »festen Brauchtum« der sozialistischen Gesellschaft macht auch die Entwicklung der Teilnehmerzahlen deutlich. So nahmen 1954/55 insgesamt 52 322 Jungen und Mädchen an der Jugendweihe teil, das waren 17,4% des Altersjahrgangs. 1958/59 nahmen dann schon 138 840 Jugendliche teil (80,4%). Seit Anfang der 60er-Jahre lag die Beteiligung bei über 90%, in den letzten Jahren der DDR sogar bei ca. 97,5%. Träger der Jugendweihe waren der ZAfJ und seine Kommissionen, sowie 15 Bezirksausschüsse, ca. 250 Kreis-, Stadt- und Stadtbezirksausschüsse, ferner mehr als 4 000 Orts- und Schulbereichsausschüsse. 1983/84 gab es 140 000 ehrenamtliche Helfer und 80 000 Gesprächspartner, die die Jugendweihe durchführten.
 
Änderungen beim Programm der Jugendstunden und beim Geschenkbuch
 
Im Laufe der Jahre wurde das Programm, das bei den zehn Jugendstunden durchgesprochen wurde, ebenso mehrmals verändert wie auch Inhalt und Aufmachung des Geschenkbuches, das bei der Jugendweihe den Jugendlichen überreicht wurde. Das erste Geschenkbuch trug den Titel »Weltall — Erde — Mensch«. In seinem Vorwort rief Walter Ulbricht zum »Kampf gegen Aberglauben, Mystizismus, Idealismus und alle anderen unwissenschaftlichen Anschauungen« auf. Der Nachfolgeband trug den Titel »Der Sozialismus — Deine Welt«. Erst der Band »Vom Sinn des Lebens«, der 1983 herauskam, enthielt anders als seine Vorgängerbände keine den christlichen Schöpfungsglauben angreifende Polemik mehr. In seinem Vordergrund stand die ideologisch stringente Lehre des Marxismus-Leninismus. Ab 1982/83 gab es eine Änderung beim Programm der Jugendstunden. Wie auch das Geschenkbuch orientierten sich die Jugendstunden nunmehr an der staatsbürgerlichen Erziehung. Im Vordergrund standen unter anderem die Liebe zum sozialistischen Vaterland, die Freundschaft mit der Sowjetunion, die Liebe zur Arbeit und zur Arbeiterklasse sowie die Teilnahme am wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Weitere Themen waren Kunst, Kultur, Rechte und Pflichten im Sozialismus und die sozialistische Friedenssicherung.
 
Änderungen auch beim Gelöbnis selbst
 
Auch das Gelöbnis selbst wurde mit den Jahren einigen Änderungen unterzogen. 1954/55 wurde noch der »Kampf für Frieden, ein einheitliches Deutschland und Fortschritt« gelobt. Dieser Bezug auf ein Gesamtdeutschland entfiel dann 1958. Ab 1969 wurde noch stärker Wert gelegt auf das sozialistische Ziel. Diese Neufassung fiel ziemlich genau zusammen mit der Neufassung der DDR-Verfassung von 1968, die die Grundlage bilden sollte für den Aufbau des »entwickelten Systems des Sozialismus«. Auch die außenpolitischen Aspekte des Gelöbnisses wurden modifiziert. 1955 erfolgte noch ein Bekenntnis zur »Völkerfreundschaft«, dieses wurde dann abgelöst vom Bekenntnis zum »proletarischen Internationalismus« und zum »Bruderbund mit der Sowjetunion«, das ab 1969 erfolgte.
 
Alle gingen hin — aber waren sie auch mit dem Herzen bei der Sache?
 
Ob diese begeisterten Worte auch die Herzen der Jugendlichen bei der Jugendweihe erreichten, bleibt eher fraglich. So offenbarte 1967 eine Studie des Leipziger Instituts für Jugendforschung, dass viele Jugendliche an der Jugendweihe teilnahmen, weil »es sich so gehört«. Zudem wurden kritisiert ein »bewusstes Fehlen« bei den Jugendstunden oder aber eine »fatalistische Teilnahme« an ihnen.
 
 Identitätsstiftung nach der Wende
 
Nach der Wende und dem Untergang der DDR ab 1989 verschwand die Jugendweihe nicht völlig, wie man hätte annehmen können. Sie blieb stattdessen vielerorts erhalten, um eine gewisse Identität zu stiften in einem neuen, unbekannten Staat. Dies zumal, gerade in den neuen Bundesländern die Kirchen nicht die Position hatten und haben, um als Gemeinschaft Hunderttausenden Jugendlichen eine Alternative zur Jugendweihe zu bieten, denn zu DDR-Zeiten waren nur noch 10% der Jugendlichen zur Konfirmation gegangen. Heute führt unter anderem der Humanistische Verband, ein Zusammenschluss vieler freigeistiger und freireligiöser Organisationen, in Berlin die Jugendweihe durch.
 
 
Thomas Gandow:Jugendweihe. Humanistische Jugendfeier. München 1994.
 Georg Diederich u. a.: Jugendweihe in der DDR. Schwerin 1998.
 Andreas Meier: Jugendweihe —Jugendfeier. Ein deutsches nostalgisches Fest vor und nach 1990. München 1998.
 Loachim Chowanski und Rolf Dreier: Die Jugendweihe. Eine Kulturgeschichte seit 1852. Berlin 2000.
 Albrecht Döhnert: Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion. Leipzig 2000.
 Hartmut M. Griese: Übergangsrituale im Jugendtaler. Jugendweihe, Konfirmation, Firmung und Alternativen. Münster 2000.
 Susann Illing: Die Jugendweihe im Wandel der Zeit. Stuttgart 2000.

Universal-Lexikon. 2012.

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